Mein Leben in Kenia - Teil 12: von erlernter Hilfsbedürftigkeit und Hoffnung

In Nairobi gibt es mehrmals wöchentlich an verschiedenen Plätzen Massai-Märkte. Hier werden von den Massai in der Regel handgefertigte Produkte wie Tiere und allerlei Gegenstände aus Holz, aber auch Kleider, Decken, Bilder und vieles mehr zum Kauf angeboten. Ich kann mich noch gut an meinen ersten Besuch auf einem solchen Markt erinnern. In erster Linie war ich sehr beeindruckt von den vielen Waren, die von den Händlern lautstark- und für meinen Geschmack mitunter auch etwas aufdringlich -  angeboten wurden und von den vielen Menschen, die dort waren. Eine der Sachen, die ich aber bereits bei meinem ersten Besuch dort bemerkenswert fand und die mich doch auch ziemlich wunderte war das Hauptargument, mit dem die Verkäufer Kunden zum Kauf ihrer Produkte bewegen wollen. Dieses ist nämlich oft keinesfalls die Qualität oder Besonderheit der Ware, obwohl viele der angebotenen Dinge wirklich mit viel Liebe und sehr schön gemacht sind. Das Hauptargument ist aber meist folgendes: „Du bist mein erster Kunde für heute, ich habe eine große Familie, deshalb bitte kauf mir etwas ab!“ Ich fand diese Argumentation generell etwas merkwürdig, besonders aber, weil sie  nachmittags, kurz vor Schließung des Marktes angeführt wurde. Denn der Markt war so voller Menschen – vor allem Touristen, dass diese Aussage mit Sicherheit nicht der Wahrheit entsprechen konnte. Dennoch verwiesen die Händler mehr auf die eigene Schwäche und Hilfsbedürftigkeit, als auf die eigene Stärke und die Qualität, dem Herzblut und der Liebe, die zweifelsohne in der Arbeit steckte.

Der Massai-Markt in Nairobi.

Der Massai-Markt in Nairobi.

Inzwischen lebe ich seit zwei Jahren in Kenia und muss sagen, dass dieses Betonen der eigenen Hilfsbedürftigkeit und das Einnehmen einer ohnmächtigen Opferrolle mir hier leider oft begegnet. Oft wird Kindern genau diese Einstellung von zu Hause mitgegeben oder – schlimmer noch – sie werden sogar in diese Richtung instrumentalisiert. Besonders tragisch erlebe ich das immer, wenn wir abends noch in Nairobi unterwegs sind. Tagsüber lässt die Polizei betteln dort nicht zu. Abends sind wir aber immer umringt von zahlreichen, teilweisen noch sehr kleinen Kindern, die alle versuchen, uns davon zu überzeugen, dass sie arm sind und unbedingt Hilfe brauchen. Dies zu erleben, bricht uns jedes Mal das Herz!

Zum einen finden wir es wirklich schlimm, dass Kinder von ihren Eltern oder Verwandten benutzt und vorgeschickt werden um zu betteln, in der Hoffnung, dass sie eher Mitleid auslösen als die Erwachsenen das selbst tun würden. Viel schlimmer finden wir aber das, was es mit diesen Kindern macht: sie lernen nämlich auf diese Weise schon ganz früh, sich als hilfsbedürftiges Opfer darzustellen und sich natürlich auch so zu fühlen. Sie lernen nicht viel bis nichts über ihre eigenen Stärken und Fähigkeiten oder ihren Wert als Mensch, sondern sie lernen, dass es vor allem darauf ankommt, Mitleid zu erregen. Jetzt bin ich kein Psychologe, aber ich glaube man braucht kein Psychologie-Studium um zu dem Schluss zu kommen, dass eine solche Erfahrung, die womöglich über Jahre fast täglich gemacht wird, für die Seele eines Kindes nicht gut sein kann.

Diese Erlebnisse in der Innenstadt von Nairobi sind einer der Gründe dafür, warum wir unser „Zentrum der Hoffnung“ aufbauen wollen. Unser Hauptanliegen dabei ist, dass wir junge Menschen in einer Art und Weise prägen, dass sie sich als das sehen, was sie eigentlich sind – keine Opfer, sondern Ebenbilder und Gedanken Gottes. Wir möchten, dass sie sie in dem Bewusstsein aufwachsen, dass Er sie aus einem bestimmten Grund genau so gemacht hat, wie sie sind. Sie sollen ihren Wert, ihre Stärken und ihre Fähigkeiten kennen lernen und wie sie diese einsetzen können, um ihr Leben aktiv zu gestalten und ihr Umfeld positiv zu prägen. Diese Kinder sollen nicht verzweifelt sein, sondern voller Träume und Hoffnung, wenn sie an ihre Zukunft denken.

Wir wissen natürlich, dass unsere Arbeit nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein kann, aber jedes einzelne Kind, das nicht erst auf den Straßen Nairobis und später als Erwachsener vielleicht auf einem Massai-Markt andere von seiner Hilfsbedürftigkeit zu überzeugen versucht, sondern sein Leben selbst in die Hand nimmt und voller Hoffnung in die Zukunft sieht, ist es uns wert, dieses „Zentrum der Hoffnung“ aufzubauen.   

Marco Fries